I
Texte, die am Ende eines Tages entstehen.
20.März 2020
ich erinnere mich noch genau an letzte woche. es scheint mir so lange her zu sein. das draußen war noch weiter weg, als nur bis zu meinem fenster. zwei fliegen gesellen sich zu mir in mein zimmer. ich schaue sie eifersüchtig an. die freiheit zu haben in der sonne herum zu summen und sich in ein gebäude, in eine wohnung, in ein zimmer zu verirren, macht mich wütend. ich bewege meine arme wild um mich. raus. raus!
21.März 2020
einem alten mann angeboten für ihn einkaufen zu gehen, der mich nur misstrauisch angeschaut und sich gleich humpelnd von mir entfernt hat, nachdem er mir klar gemacht hat, dass »er die regeln befolge und nichts passieren könne, wenn man genug abstand einhalten würde«. ich bin dann zurück zu mir, die stufen hoch. gleich wieder runter – eine extra runde, dann wieder hoch. die türe geschlossen, gehofft, dass ich vergessen habe die post hoch zu bringen aber das habe ich nicht. die wochenzeitung unter meinem arm setzte ich mich auf den eingesessenen sessel in meinem zimmer. sitze heute schon viel tiefer, kommt mir vor.
22. März 2020
heute ist nichts geschehen. bin aufgewacht und habe so getan, als würde ich frühstücken. dann so getan, als würde ich sport machen und zu mittag so getan, als würde ich kochen und essen. viel später dann kaffee getrunken, obwohl ich doch faste. heute geht alles. heute ist wieder sonntag, so wie die ganze woche schon.
23.März 2020
der wind war heute das erste mal seit langem wieder richtig frostig. es tut in den augen weh. wie im winter vor acht jahren, wo einem noch kalt wurde. wie es aussieht, habe ich mich dazu entschieden einen kleinen garten auf meinem tisch zu pflanzen. vor einigen wochen gesehen, wie ananaspflanzen aussehen und seither nicht mehr aufhören können daran zu denken.
24. März 2020
wissen, dass sich heute nicht wirklich von gestern oder morgen unterscheidet und, dass das gras diesmal nirgendwo grüner ist, als vor der eigenen haustür.
25. März 2020
Samuel Beckett schreibt: ich fühle.
26. März 2020
ich weiß schon gar nicht mehr wie ich sitzen soll. zum lesen stehe ich immer öfter auf. lese an die wand gelehnt, irgendwo in meiner wohnung. am besten in der küche oder im bad. damit ich aus meinem zimmer raus komme. schaue so aus als würde ich auf den bus warten.
II
Texte, die am Ende eines Tages entstehen
27. März 2020
wenn ich mich also an den letzten sommer erinnern und das meer hören will, dann setzte ich mich vor den eingeschalteten geschirrspüler und mache die augen zu. bleibe so lange sitzen bis es aufhört.
28. März
und wer glaubt, dass ich jetzt all die dinge mache, für die ich sonst keine zeit habe, der irrt sich. habe heute fast ausschließlich aus dem fenster geschaut. zum ersten mal das gesicht meiner nachbarn gegenüber erblickt. wir, wie wir uns zuwinken und lachen. so, als wären wir in unseren schrebergärten und nur ein hölzerner zaun, der uns trennt.
29. März 2020
ob die leute, die gemeinsam laufen und sich aus zwei meter entfernung erzählungen zuschreien müssen, wissen, dass sie die ganze zeit auch nur hin und her spucken?
30. März 2020
heute wild in meinem zimmer getanzt bevor ich zur post gegangen bin. die küche und das bad geputzt – schon wieder. es fängt an sich zu wiederholen nur eben eine stunde später.
31. März 2020
man soll ja an seiner routine festhalten, sich festkrallen und nie mehr loslassen. besonders jetzt. umso wichtiger also am nachmittag nicht auf kaffee und kuchen zu vergessen. umso wichtiger also auch zu wissen: wacht man am morgen traurig auf, ist man noch viel trauriger. wacht man aber glücklich auf, ist man umso glücklicher als gewohnt.
1. April 2020
wenn man es nicht weiß, dann fällt einem auch gar nichts auf. dann könnte man meinen, alles wäre in bester ordnung und die luft hat sich wirklich schon verändert. viel frischer. ganz klar, wie auf der alm. also, wenn man es nicht weiß, dann ist alles gar nicht so anders.
2. April 2020
und nicht ein scherz gestern.
III
Texte, die am Ende eines Tages entstehen
3. April 2020
ich liege also da, diesmal draußen auf dem balkon – kalt ist’s, aber damit muss man rechnen, wenn man im april auf dem steinboden liegt – und schaue den wolken zu. zum ersten mal seit langer zeit. ich schaue so richtig lange zu. bis es dunkel wird. dann erst stehe ich auf und muss husten.
4. April 2020
ich schaue raus aus dem fenster und rein bei den nachbarn und sie schauen raus aus dem fenster und rein bei mir. wir wissen genau wann wir zu mittag zum essen das zimmer verlassen um in die küche zu gehen.
5. April 2020
war kurz draußen. habe bemerkt, dass die blumen blühen und die sträucher und die wiesen und die bäume: so bunt. mich sofort gewundert, dass der frühling also wirklich nicht auf uns wartet.
6. April 2020
heute einen brief gelesen: lieber onkel, du musst bestimmt schon böse sein, dass ich nichts von mir hören lasse, aber was gibt es schon zu schreiben.
7. April 2020
endlich, so etwas wie eine routine gefunden. obwohl jeden morgen die selbe frage aufkommt: »ok und jetzt?«
8. April 2020
wenn man also auf die straße geht um sich in seiner nachbarschaft die füße zu vertreten, dann bleibt man vor den stammplätzen stehen und zeigt mit dem finger hin und denkt sich: »da bin ich immer gesessen« oder »dort! dort habe ich meine jugend verbracht« oder »ich kann mich noch erinnern – letztes jahr zu dieser zeit ein eis gegessen. genau da«.
9. April 2020
sozusagen leben wir seit kurzem in der vergangenheit. schauen uns noch einmal bilder vom letzten sommer an, als wäre es das jetzt gewesen.
IV
Texte, die am Ende eines Tages entstehen
10. April 2020
nicht vergessen: morgen ostern.
11. April 2020
ich sage immer, man soll keine sonnenuntergänge fotografieren. oder wolken, weil das schwierig ist. da ist’s besser man schaut sich’s an bis kein licht mehr da ist. aber heute war’s so weit. schöne wolken bei untergehender sonne. gleich fotografiert und was soll ich sagen: man soll so etwas einfach nicht fotografieren.
12. April 2020
man gewöhnt sich ja an alles. außer an rosinen. weil, wenn man die nicht mag, dann bleibt das wahrscheinlich auch so.
13. April 2020
heute ein gedicht von h.c.artmann gelesen, in dem »wolken«, »ein gefider« und »strauch« vorkommt. dazu fällt mir noch ein: »pulverhügel«, »der vogel« und »heute spuckt mir der wind ins gesicht«.
14. April 2020
eine krise verschwindet ja nicht einfach so. sie tritt ja auch nicht von einem tag auf den anderen auf. wie sagt man so schön: schleichend. es kam schleichend, sie kam schleichend. die kankheit kam schleichend. eine krise wird, wenn überhaupt, ja nur abgelöst durch eine neue, modernere. wie auch bei einem staffellauf. da schau ich kurz genau hin und stelle fest: die staffel wird ja weitergegeben.
15. April 2020
ob der vogel versteht, warum ich so oft zu ihm rüber schau. ja, ihn manchmal sogar zu mir winke. so ganz anders als früher, wo ich ihn ja oft schon verscheucht habe. ob der vogel versteht, was mit mir plötzlich los ist.
16. April 2020
man sieht ja keine münder mehr. ein seltenes gut, also. deshalb auch der viel zu lange augenkontakt mit dem mensch, dem ich begegne. beinahe unangenehm. sofort frage ich mich: was fühlt denn der?
V
Texte, die am Ende eines Tages entstehen
17. April 2020
der wind weht und normalerweise fällt es mir nicht auf, aber ich habe zeit. bleibe also stehen und sehe den blättern beim fallen zu. gehe erst weiter, wenn alle am boden liegen.
18. April 2020
meine hände leicht verletzt beim stricken.
19. April 2020
heute den ganzen vormittag aufgeregt auf die versprochenen quellwolken gewartet. am nachmittag dann eine kleine wolke. zufrieden aufgestanden. die polster am balkon zur seite geschoben und mich im wohnzimmer gleich wieder hingesetzt um aus dem fenster zu sehen. auf den regen gehofft, von dem schon gestern den ganzen tag die rede war. ein guter tag.
20. April 2020
»ich bin wieder da!«, schreie ich ins zimmer, wenn ich, wie so oft, aus der küche komme. eine zurückgekehrte also.
21. April 2020
lust meine augen in butter zu legen.
22. April 2020
im garten meiner eltern wächst eine ganz kleine weinrebe, die immer wieder einmal zugeschnitten wird. ich gehe also davon aus, dass meine eltern wissen, was sie tun.
23. April 2020
ganz bald ist dann auch schon wieder winter.
VI
Texte, die am Ende eines Tages entstehen
24. April 2020
heute seufzend von meinem buch aufgeschaut und gedacht: könnte ich mich nur in worte legen, ich würde es tun!
25. April
thomas bernhard, der humorist.
26. April 2020
wie oft denn noch: heute ist sonntag.
27. April 2020
wenn ich so überlege, habe ich schon eine weile, ja, schon viel zu lange in keinen brennnesselstrauch mehr gegriffen.
28. April 2020
ob ich nun hier bei mir wohne oder dort drüben, denke ich mir. dort drüben bei mir oder hier bei mir. hier oder dort drüben. ganz egal.
29. April 2020
die größte furcht aber ist und bleibt trotzdem immer noch die: mit dem vorderreifen meines fahrrads in den straßenbahngleisen feststecken zu bleiben.
30. April 2020
ein zitat aus einem buch: »und es ist tatsächlich kein scherz«
https://oe1.orf.at/ugcsubmission/view/9d874e80-6d62-4866-9cf7-0e1f1a9c1d2b/Tagebuchartige-Eintraege
https://oe1.orf.at/ugcsubmission/view/eaba5c12-ce6f-47b9-91a8-d7c5b7d2e148/Tagebuchartige-Eintraege-II
https://oe1.orf.at/ugcsubmission/view/c4672d90-9233-474b-b367-cddc38a7813e/Tagebuchartige-Eintraege-III
https://oe1.orf.at/ugcsubmission/view/0c3b4f04-7dc9-4718-95fa-844d4a3d0f04/Tagebuchartige-Eintraege-IV
https://oe1.orf.at/ugcsubmission/view/5ffbbf5d-5e59-4376-8413-710ee4445a36/Tagebuchartige-Eintraege-V
https://oe1.orf.at/ugcsubmission/view/cd6b011f-6cef-4de4-9797-9131eaf695d0/Tagebuchartige-Eintraege-VI